Der Große Refraktor der Kuffner Sternwarte
Startest 2000
Etwa Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts war die Blütezeit der großen Refraktoren. Durch die Arbeit von J. Fraunhofer, und in weiterer Folge E. Abbe, war es möglich geworden, hochkorrigierte achromatische Linsenobjektive herzustellen.
Ihren Höhepunkt fanden die großen Observatoriums-Refraktoren 1897 im 1002mm/19360mm Großrefraktor der Yerkes Sternwarte nahe Chicago. Damit war man auch am technischen Limit angelangt. Wohl wurden noch etliche Jahre später einige große Refraktoren gebaut, als Observatoriums-Großinstrumente liefen ihnen aber mehr und mehr die Spiegelteleskope den Rang ab.
Der Große Refraktor der Kuffner-Sternwarte in Wien ist der drittgrößte Refraktor Österreichs, nach dem Großen Refraktor der Universitätssternwarte Wien (der bei seiner Errichtung das größte Linsenteleskop der Welt war) und dem Westkuppelrefraktor der Universitätsternwarte Wien.
Der Kuffner-Refraktor wurde in der Zeit von 1884 bis 1886 gebaut. Die Optik stammt von der Firma Steinheil in München, die Mechanik von der Firma Joh. Repsold und Söhne in Hamburg. In den Jahren 1920, 1946 und zuletzt 1994-95 wurde das Gerät überholt.
Technische Daten und Aufbau des Objektivs
Bauart: zweilinsiger CF-Achromat, ausgeführt als Steinheil-Typ, unvergütete Linsenflächen
Durchmesser: 270mm
Brennweite: 3500mm (Nennwert), zu 3511+/-9mm aus CCD-Aufnahmen ermittelt
Öffnungsverhältnis: f/13
Fassung: Kompensationsfassung mit Federspannung
Die Anordnung der Linsen ist beim Steinheil Objektivtyp umgekehrt wie beim Fraunhofertyp: in Front eine negative Flintglas-Linse, gefolgt von einer positiven Kronglas-Linse. Die beiden Linsen sind durch einen engen Luftspalt getrennt. Beim Steinheiltyp sind die Innenradien der Linsen allerdings stärker gekrümmt, um Zonenfehler zu vermeiden, muß eine Fläche retuschiert werden. Das Handretuschieren einer Linsenfläche bedingt, daß die vorgesehene Stellung und Lage der Linsen zueinander unbedingt eingehalten werden muß.
Als Achromat bezeichnet man ein Refraktorobjektiv, welches für zwei Farben korrigiert ist. Üblicherweise wird der kürzeste (visuelle) Brennpunkt im grünen e-Licht gewählt, der gemeinsame Fokus zweier weiterer Farben im roten C- und blauen F-Licht. Die Differenz zwischen grünem e- und rot/blauem CF-Fokus nennt man "sekundäres Spektrum". Eine für das menschliche Auge akzeptable Achromasie ist gegeben, wenn der rot-blaue Halo im visuellen Fokus das Dreifache des Beugungsscheibchens nicht überschreitet. Dies ist bei einem Öffnungsverhältnis von mindestens N = 0.122 D gewährleistet. Für den Kuffner-Refraktor ergibt sich so ein Öffnungsverhältnis von f/33 – ein 9 Meter langes Rohr wäre dafür erforderlich! Daher liegt es auf der Hand, daß der Kuffner-Refraktor – wie übrigens alle großen Achromate aus dieser Zeit – einen nicht zu übersehenden Farbfehler aufweist.
Auf der Web-Seite des Vereins Kuffner Sternwarte wird das Objektiv als Halbapochromat und Vorläufer des Zeiss AS-Objektivs bezeichnet. Dazu ist anzumerken:
Das AS-Objektiv ist als Steinheiltyp ausgeführt, und ist selbst durch die Verwendung eines Sonderglases ein verbesserter Achromat (Halbapochromat). So gesehen könnte jedes Steinheil-Objektiv als Vorläufer des AS-Typs angesehen werden. Allerdings handelt es sich mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit beim Kuffner-Refraktor nicht um ein halbapochromatisches Objektiv. Den Optikern der damaligen Zeit standen einige Kron- und Flintglastypen zur Verfügung. Die Entwicklung von Sondergläsern war allgemein noch nicht sehr weit, 1881 wurden die ersten Sondergläser "erschmolzen", und fanden erstmals zusammen mit natürlichem Flußspat 1886 in apochromatischen Mikroskopobjektiven ihren Einsatz. Die für Astroobjektive benötigte große Schmelzmasse stand damals technologisch noch nicht zur Verfügung.
Als "Sonderglas" bezeichnet man ein Glas, das günstigere Dispersionseigenschaften als herkömmliche Gläser aufweist. Damit ist es möglich, das sekundäre Spektrum (den Farbfehler) eines achromatischen Objektivs weiter zu reduzieren – solchermaßen besser farbkorrigierte Objektive bezeichnet man oft auch als Halbapochromate.
Die Technik zur Vergütung von Linsenflächen stand erstmals 1935 zur Verfügung. Die vier unvergüteten Glas-Luftflächen eines zweilinsigen Refraktorobjektivs führen zu einem beträchtlichen Streulichtanteil, was sich in Kontrastminderung auswirkt.
Abbildungseigenschaften
Von der Abbildung her ist ein zweilinsiges achromatisches Objektiv bestenfalls "aplanatisch", d.h.: sphärische Aberration und Koma sind korrigiert. Off-Axis Astigmatismus und Bildfeldwölbung sind nicht korrigierbar.
Damit ergibt sich die theoretisch bestmögliche Korrektur des Objektivs des Kuffner-Refraktors:
- Korrektur der sphärische Aberration im grünen e-Licht (besser als beugungsbegrenzt). Durch die Sphärochromasie weicht die Korrektur der sphärischen Aberration im C- und F-Licht etwas ab.
- Das sekundäre Spektrum beträgt unter Einsatz von Gläsern mit normaler Teildispersion 1/2000 der Brennweite.
- Off-Axis Astigmatismus ist nicht korrigierbar.
- Bildfeldwölbung ist nicht korrigierbar.
Derzeitiger Zustand des Objektivs
Anläßlich einer Mitte 1999 im Startest durchgeführten Evaluierung wurde folgender Zustand der Optik diagnostiziert:
- Die sphärische Aberration weist im grünen Licht sehr gute Korrektur auf (besser als beugungsbegrenzt), im roten und blauen Licht nur geringe Abweichung.
- Das sekundäres Spektrum wurde im Bereich von 1/2000 der Brennweite ermittelt, damit entspricht die Farbkorrektur dem, was für Achromate mit normalen Gläsern üblich ist.
- Je nach Lage des Objektivs unterschiedlich stark ausgeprägter Achsastigmatismus (horizontnah stärker, zenitnah schwächer). Der Astigmatismus ist teilweise sehr stark, liegt dann deutlich über der Beugungsgrenze!
- Verspannung der Optik: Vom Beugungsscheibchen ausgehend sind drei Lichtspikes feststellbar. (Anm: Eine leichte, aber doch merkbare Verspannung dürfte historisch bedingt, und nicht mehr behebbar sein – begründet in der Druckeinwirkung der Distanzplättchen zwischen den Linsen über eine Dauer von nun bereits mehr als 100 Jahren.) Die Aberration durch die Verspannung liegt über der Beugungsgrenze!
- Es wurde ein Zonenfehler festgestellt, der aber keine nennenswerte Auswirkung auf die Abbildung haben dürfte. Nachdem eine der Linsenflächen handretuschiert wurde, sollte das Objektiv im Originalzustand keine Zonenfehler aufgewiesen haben.
Kommentar zu den Aberrationen: Ursache für den sehr starken Achsastigmatismus kann nur eine "Dejustierung", in diesem Fall also ein Verkippen der Linsen sein. Die damals gefertigte Kompensationsfassung dürfte den Linsen relativ viel "Luft" lassen, die Linsen werden von einer Feder in ihre Lage gedrückt. Wenn nun die Feder zu schwach gespannt ist, oder die Spannung mit der Zeit oder durch Temperaturschwankungen nachläßt, kann es zu unkontrollierten Lageänderungen der Linsen, einem Verkippen, kommen, speziell wenn das Teleskop horizontal oder gar unter die Horizontlinie ausgerichtet wird. Offenbar gab es früher ebenfalls immer wieder Probleme in diese Richtung, ein Hinweis dafür findet sich jedenfalls in den historischen "Publicationen der von Kuffnerschen Sternwarte".
Eine Sichtinspektion des Objektivs erhärtet den Verdacht auf ein Verkippen der Linsen: Die Distanz vom äußersten Objektivring zur äußersten Linsenfläche ist nicht gleichmäßig. Das Teleskop befand sich bei dieser Inspektion in einer Position, die der Beobachtung eines tiefstehenden Objektes entspricht.
Der Achsastigmatismus ist bei zenitnaher Ausrichtung des Teleskops geringer, da überwiegt eindeutig die Verspannung als Aberration, bei Beobachtungen in niedriger Höhe überwiegt der Astigmatismus. Daraus läßt sich schließen, daß direkt beim Schwenken des Teleskops die Linsen eine Lageänderung erfahren.
Da die historische Objektivfassung offensichtlich problematisch ist, ist das Objektiv wohl als etwas "wehleidig" einzustufen, extrem sorgsame Behandlung ist daher angebracht. Möglicherweise ist dennoch eine Lageänderung der Linsen – rein durch das Schwenken des Teleskops im Beobachtungsbetrieb – nicht vermeidbar, und daher öfter ein "Service" fällig; jedenfalls deuten die historischen Aufzeichnungen dies an.
Das Verkippen der Linsen könnte letztlich auch eine Änderung der Distanz der Linsen zueinander bewirken, wodurch die Korrektur der sphärischen Aberration und die Farbkorrektur etwas leiden würde, sowie der Zonenfehler erklärbar wäre.
Anläßlich der letzten Überholung war nach dem Informationsstand des Autors nur eine leichte Verspannung feststellbar, ein leicht dreieckig ( "kissenförmig") verzeichnetes Beugungsscheibchen. Sonst soll sich die Optik in exzellentem Zustand präsentiert haben. Daraus läßt sich folgender Schluß ziehen: Ein neuerliche Überholung der Optik ist notwendig, wobei die Feder der Objektivfassung so weit angespannt werden sollte, daß die dadurch möglicherweise auftretende Verspannung der Optik das historisch bedingte Ausmaß nicht überschreitet. Eine zu leichte Spannung würde alsbald wieder eine Dejustierung zur Folge haben. Mit einem neuerlichen Auftreten dieses Problems muß dennoch gerechnet werden.
Auswirkungen auf die Beobachtung
Bei Führungen im Volkssternwartenbetrieb werden in erster Linie Mond und Planeten gezeigt. Durch die oft vorherrschende Luftunruhe kann eine Vergrößerung von ca. 200x kaum überschritten werden. Das kurzbrennweitigste Okular, das an der Sternwarte zur Verfügung steht, bringt eine Vergrößerung von 230x (?). Bis in diesen Bereich sind die Auswirkungen durch die festgestellten Aberrationen noch nicht gravierend, aber bei Beobachtungsobjekten in geringerer Höhe wird die Abbildung bereits merkbar beeinträchtigt.
Durch die Lage der Kuffner Sternwarte in der Großstadt (mit stark aufgehelltem Himmel) kann der Refraktor amateurastronomisch ebenfalls nur für Mond- und Planetenbeobachtungen sinnvoll eingesetzt werden. Jedoch können Amateure unabhängig von Führungszeiten die Stunden des besten Seeings nutzen, und mit eigenen Okularen auch höhere Vergrößerungen, die die Leistung des Gerätes voll ausschöpfen würden, nutzen (300x bis 350x sind ohne weiters vorstellbar). In diesem Bereich wird die Abbildungsqualität allerdings durch den derzeit bestehenden Astigmatismus stark beeinträchtigt, der Refraktor fällt in seiner Leistung etwa auf die eines guten Sechszöllers oder darunter zurück. Ein guter 4" Refraktor löst z. B. den Vierfachstern Epsilon Lyrae anstandslos auf – bei 167x und noch relativ tief stehendem Objekt hatte der Große Refraktor damit Schwierigkeiten...
Da Epsilon Lyrae durchaus noch zu den Vorführobjekten einer Sternwarte gezählt werden darf, ist aus diesem Beispiel eine doch sehr eingeschränkte Verwendungsmöglichkeit des Refraktor abzusehen.
Anmerkungen zur Startest-Evaluierung
Als Startest versteht man die Inspektion des Beugungsbildes eines Sterns im engen Bereich um den Fokus (also knapp intra- und knapp extrafokal), bei mittelhoher bis hoher Vergrößerung. Aberrationen lassen sich im Startest – entsprechende Kenntnisse natürlich vorausgesetzt – leicht diagnostizieren, aber schwer bis gar nicht quantifizieren. Der Startest ist sehr sensibel, Aberrationen in kleinsten Ausmaßen hinterlassen bereits ihre Spuren im Beugungsbild eines defokussierten Sternes. Allerdings ist der Startest ungeeignet, um Rückschlüsse auf den Fehlerort an einer optischen Fläche ziehen zu können.
Die am Großen Refraktor festgestellten Mängel waren in einer kritischen Startest-Diagnose binnen weniger Minuten ersichtlich. Im Beisein eines des Startests kundigen Vereinsmitglieds wurden die festgestellten Mängel in einer Reihe von weiteren, kritischen und stundenlangen Testsitzungen bestätigt, und näher untersucht.
Der Refraktor weist an seinem Okularauszug eine Millimeterskala auf, die es ermöglicht, Fokusdistanzen zu messen – die lange Brennweite ist zudem hilfreich, da die notwendigen Defokus-Distanzen etliche Millimeter betragen. Somit können Messungen mit recht guter Genauigkeit durchgeführt werden, was die Diagnosearbeit sehr erleichtert.
Wir fanden jedenfalls nicht nur in den historischen "Publicationen der von Kuffnerschen Sternwarte" Evidenz auf eine prinzipiell hervorragende Optik ("vorzüglich geschliffene Linsen"). Der Refraktor besitzt ein für die damalige Zeit exzellentes Objektiv, das mit Sicherheit in perfektem Zustand ein großartiges Beobachtungsinstrument war, und es auch heute noch sein könnte.
Wolfgang Howurek
Quellennachweis:
Laux, Astrooptik
Haferkorn, Lexikon der Optik
Rutten/van Venrooij, Telescope Optics
Suiter, Star Testing Astronomical Telescopes
Historische "Publicationen der von Kuffnerschen Sternwarte", Band 1
Überlieferungen und Aufzeichnungen des Vereins Kuffner Sternwarte
Wolfgang Howurek
Walter Koprolin
29.2.2000
Addendum 2018
Im Juli 2017 wurde der Autor vom Leiter des Vereins Kuffner-Sternwarte, Dr. Günther Wuchterl, in Kenntnis gesetzt, dass das Objektiv des Großen Refraktors durch den Zeiss Spezialisten Dipl. Phys. Gebhard Kühn überholt und Instand gesetzt worden war. Dr. Wuchterl bat um eine neuerliche Evaluierung des Refraktors.
Eine erste Einschätzung der Abbildungsleistung des Großen Refraktors fand im August 2017 statt. Wiederum wurde die Evalierung via Startest durchgeführt, jedoch auch ein Ronchi Okular zum Test eingesetzt. Der Autor wurde durch Andreas Berthold und ein Mitglied des Vereins Kuffner-Sternwarte unterstützt. Dr. Wuchterl war bei diesem Test anwesend und konnte sich seinerseits von den gewonnenen Erkenntnissen direkt überzeugen.
Aktueller Zustand des Objektivs
- Sphärische Aberration: Keine Änderung zur Evaluierung im Sommer 1999
- Farbkorrektur: Keine Änderung zur Evaluierung im Sommer 1999
- Astigmatismus: Ein mildes Ausmaß dieser Aberration war feststellbar, vom Autor mit hoher Wahrscheinlichkeit als thermische Erscheinung eingestuft (Luftschichtung im Tubus)
- Verspannung der Linsen konnte nicht festgestellt werden
- Zonenfehler: Keine Änderung zur Evaluierung im Sommer 1999
Somit sind die Hauptprobleme, von denen dieses Objektiv betroffen war, beseitigt.
Anlässlich eines weiteren Besuchs an der Kuffner Sternwarte im September 2017 wurde das Verhalten des Astigmatismus vom Autor genauer beobachtet. Das Teleskop war zuvor im Führungsbetrieb im Einsatz, d. h. die Kuppel war schon seit einiger Zeit offen. Es bestätigte sich, dass der bei der ersten Testsitzung festgestellte Astigmatismus rein thermischer Natur ist und im Lauf des Austemperierens verschwindet. Das Objektiv selbst weist keinen Astigmatismus auf.
Fazit
Das Objektiv des Großen Refraktors zeigte zum Zeitpunkt der neuerlichen Evaluierung eine einwandfreie Abbildungsleistung. Der thermisch bedingte, temporäre Astigmatismus wird bei Führungen fallweise die Leistung der Optik etwas drücken. Frühzeitig vor einer Führung oder Beobachtung die Kuppel zu öffnen und das Instrument vorzubereiten ist ratsam.
Wolfgang Howurek
22. 2. 2018