Das transneptunische Objekt Arrokoth, auch bekannt als Ultima Thule, an dem die NASA-Raumsonde New Horizons am Neujahrstag 2019 vorbeiflog, könnte seine Form in den ersten 100 Millionen Jahren seit seiner Entstehung stark verändert haben. Laut einer vor kurzem in Nature Astronomy erschienen Studie, die von der Chinesischen Akademie der Wissenschaften und dem Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung (MPS) in Göttingen geleitet wurde, meinen Forscher, dass die derzeitige Form von Arrokoth, welche einem abgeflachten Schneemann ähnelt, erst nach und nach durch Ausgasung entstanden ist. Ihre Berechnungen könnten helfen zu verstehen, was der gegenwärtige Zustand von Objekten am Rande unseres Sonnensystems über ihre ursprünglichen Eigenschaften aussagt.
Bei den zahlreichen Objekten die den Kuipergürtel bevölkern, einer Zone jenseits von Neptuns Umlaufbahn, sind noch viele Geheimnisse zu enthüllen. In den 1980er Jahren durchquerten die Raumsonden Pioneer 1 und 2 und Voyager 1 und 2 diese Region, hatten aber keine Kameras an Bord. Die Raumsonde New Horizons sendete die ersten Bilder vom äußersten Rand des Sonnensystems zur Erde; im Sommer 2015 vom Zwergplaneten Pluto und dreieinhalb Jahre später vom transneptunischen Objekt Arrokoth, das eine Größe von etwa 30 Kilometern hat. Inoffiziell wurde das Objekt damals Ultima Thule genannt. Dieser Name bezog sich auf einen mythischen Ort im hohen Norden. Auf jeden Fall ist das transneptunische Objekt der am weitesten von der Sonne entfernte Himmelskörper, der je von einer künstlichen Sonde besucht wurde.
Besonders Arrokoths ungewöhnliche Form wurde innerhalb von Tagen nach dem Vorbeiflug zur Sensation. Arrokoth ist ein Kontaktbinär-Objekt von dem angenommen wird, dass es das Ergebnis einer langsamen Verschmelzung zweier ehemals separater Körper ist. Es besteht aus zwei Teilen, von denen der kleinere kaum und der größere stark abgeflacht ist, wodurch der Eindruck eines zerquetschten Schneemanns entsteht. In der aktuellen Veröffentlichung gingen Forscher aus China, Deutschland und den USA der Frage nach, wie diese Form zustande gekommen sein könnte. Bei einigen Kometen kann man auch eine ausgeprägte zweiteilige Form erkennen. Trotzdem gibt es kein bekanntes Objekt, dass so flach ist wie Arrokoth. Hat Arrokoth schon nach seiner Entstehung so ausgesehen? Oder hat sich seine Form Schritt für Schritt entwickelt?
„Wir stellen uns den Kuipergürtel gerne als Region vor, in der die Zeit seit der Geburt des Sonnensystems weitestgehend stillgestanden hat“ sagte Ladislav Rezac vom MPS und einer der beiden Erstautoren des Artikels. Eine weit verbreitete Meinung ist, dass Objekte, die mehr als 4 Milliarden Kilometer von der Sonne entfernt sind, immer gefroren und unverändert geblieben sind. New Horizons Aufnahmen von Arrokoth hinterfragen diese Meinung, sowohl aufgrund seiner offenbar glatten Oberfläche ohne Anzeichen häufiger Kraterbildungen als auch wegen der eigenartigen abgeflachten Form. Wissenschaftler gehen davon aus, dass das Sonnensystem vor 4,6 Milliarden Jahren aus einer Gas- und Staubscheibe geformt wurde: Partikel dieser Scheibe agglomerierten zu immer größeren Klumpen; diese Klumpen kollidierten und verschmolzen zu größeren Objekten. „Es gibt bisher keine Erklärung, wie aus diesem Prozess ein solch flacher Körper wie Arrokoth hervorgehen könnte“, sagte Rezac.
Eine Möglichkeit könnte sein, dass Arrokoth knapp nach seiner Entstehung eine normalere Form hatte. Ein zusammengesetztes Gebilde aus einem kugelförmigen und einem abgeflachten Objekt. Frühere Studien deuten darauf hin, dass in der Region, in der sich Arrrokoth befindet, während der Entstehung des Sonnensystems durch die niedrigen Temperaturen flüchtige Stoffe wie Kohlenmonoxid und Methan auf Staubkörnern gefroren sind und diese dann größere Brocken bildeten. Als sich nach der Entstehung von Arrokoth der Staub gelichtet hatte, stieg durch die Sonneneinstrahlung die Temperatur an und die flüchtigen, gefrorenen Stoffe sublimierten schnell von den entstandenen Körpern. Arrokoths ungewöhnliche Form würde dann das natürliche Endergebnis sein, dass aus einer guten Mischung von starker Neigung, geringer Exzentrizität und einer Variation der Massenverlustrate mit dem solaren Strahlungsfluss besteht, was zu einer nahezu symmetrischen Erosion zwischen Nord- und Südhalbkugel führte.
„Damit ein Objekt seine Form so extrem verändern kann wie es Arrokoth getan hat, muss seine Rotationsachse in einer speziellen Weise ausgerichtet sein,“ erklärte Rezac. Im Gegensatz zur Erdrotationsachse liegt die Arrokoth-Rotationsachse beinahe parallel zur Bahnebene. Während seiner 298 Jahre dauernden Umlaufzeit um die Sonne ist eine Polarregion von Arrokoth praktisch die Hälfte dieser Zeit permanent der Sonne zugewandt, während die gegenüberliegende Polarregion im Schatten liegt. Gebiete am Äquator und niedrigere Breiten werden von tageszeitlichen Schwankungen dominiert, dadurch erwärmen sich am meisten die Pole, sodass die gefrorenen Gase dort am effektivsten entweichen können und zu einem starken Massenverlust führen“, sagte Yuhui Zhao vom Purple Montain Observatorium der Chinesischen Akademie der Wissenschaften. Der Prozess der Abflachung begann höchstwahrscheinlich früh in der evolutionären Geschichte des Objekts auf und verlief relativ kurz auf einer Zeitskala von etwa 100 Millionen Jahren, durch das Vorhandensein von super flüchtigen Stoffen in oberflächennahen Schichten. Außerdem haben die Wissenschaftler gezeigt, dass die induzierten Drehmomente eine vernachlässigbare Rolle hinsichtlich der Rotationseigenschaften von Arrokoth während der Phase eines Massenverlustes spielen würden.